Synodal - episkopal - konsistorial

Erschienen in Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht Bd. 65, 4/2020

Typen evangelischer Kirchenleitung in Geschichte, Gegenwart und Zukunft.

Einleitung
Die Ausbildung verschiedener Typen evangelischer Kirchenleitung und -verfassung ist eine Reaktion der evangelischen Kirchen auf die Genese der Moderne, und ein Versuch, mit den durch sie veränderten Bedingungen kirchlicher Existenz in der Gesellschaft klarzukommen. Der Charme dieser These liegt in ihrem Potential, nicht nur ein bestimmtes Verständnis der Vergangenheit zu erschließen, sondern auch die in der Gegenwart und nahen Zukunft sich vollziehenden Veränderungen kirchlicher Leitung als Reaktion auf die fortgesetzten Modernisierungsschübe zu verstehen, die sich koevolutionär zu den Veränderungen anderer sozialer Systeme wie dem Recht, der Wirtschaft, der Politik, der Kunst, der Medizin und vor allem auch der Kommunikation vollziehen.

Um diese Linien von der Vergangenheit über die Gegenwart in Richtung Zukunft in den Blick zu bekommen, braucht es die Reduktion der komplexen Entwicklung seit der Reformationszeit auf wenige Aspekte. Es ist eine vieldimensionale und multikausale Entwicklung, die zu den im deutschen Protestantismus heute vorfindlichen Leitungsmodellen geführt hat. Von synodalen, episkopalen und konsistorialen Leitungstypen zu reden, ist bereits eine Reduktion auf Chiffren, die historisch immer wieder zu Markern bestimmter Kirchentheorien wurden, die aber nirgendwo wie im Reagenzglas als Reinkultur existiert haben. Faktisch haben die 20 Landeskirchen in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) 20 verschiedene Leitungsmodelle. Zur Spezifizierung der hier vertretenen These soll die Annahme gehören, dass die Impulse aus der Moderne einerseits zu einem Annäherungsdruck beigetragen haben, der die Differenzen dieser Modelle zu überwinden und ihre Vorteile zu sammeln half, wie es gleichzeitig systemische Impulse für ein Auseinanderdriften verschiedener Ebenen von Kirche gibt, die unterschiedliche Leitungsmodelle erfordern. Die sich daraus ergebenden Spannungen zu gestalten, dürfte zu den Aufgaben der nahen Zukunft gehören.

Der Blick in die Vergangenheit wird sich orientieren an den drei klassischen Kirchentheorien des Territorialismus, des Episkopalismus und des Kollegialismus. Von den gesellschaftlichen Veränderungen der Bedingungen kirchlicher Existenz werden nur einige wenige herausgegriffen, die von besonderer Bedeutung waren: Die Rolle der Fürsten als Notbischöfe für die evangelischen Kirchentümer. Der Dreißigjährige Krieg und in der Folge die Transformation der Kirchentheorie und der Theologie in der Frühaufklärung. Die Einführung des Preußischen Allgemeinen Landrechts, in dem den Religionsgesellschaften eine rechtlich geregelte Rolle als privilegierte Corporationen zugewiesen wurde. Die Demokratisierungsbestrebungen des 19. Jahrhunderts. Das Ende des landesherrlichen Kirchentums 1918. Und die Lehren aus dem Kirchenkampf, die in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts gezogen wurden.

I. Von der Reformationszeit bis zum Westfälischen Frieden 1648
Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde den Fürsten das „ius reformandi“ zugesichert. Dies bedeutete, dass der Kaiser auf seine Religionshoheit verzichtete und die Rechte der katholischen Bischöfe in den protestantischen Landen suspendiert wurden. In Ermangelung eigener geistlicher Instanzen wuchs den Fürsten die Rolle von Notbischöfen zu, der Summepiskopat in ihrem Land nach der Regel: „Cuius regio, eius religio.“ Martin Luther, zu dessen Lebzeiten sich die Frage der geistlichen Leitung der neuen Kirchentümer bereits abzuzeichnen begann, sah in den Fürsten ausgesprochene Notbischöfe, die zwar den Ordnungsrahmen für die Kirchen abstecken und Personal- und Vermögensverwaltung regeln (ius circa sacris), keineswegs aber in Fragen der Lehre eingreifen dürften. Dies stehe allein dem geistlichen Amt zu. Wahrgenommen wurde es auf unterschiedliche Weise: Zum einen von theologisch und juristisch besetzten Konsistorien, meist aber zusätzlich von Superintendenten (lateinisch für das griechische Episkopos) oder Generalsuperintendenten. Damit ist in Grundzügen das episkopale Kirchenmodell beschrieben. Vereinzelt enthielt es synodale Elemente, allerdings waren Synoden in diesem Modell Versammlungen der Geistlichkeit, gelegentlich auch „Geistliches Ministerium“ genannt.

Philipp Melanchthon dagegen sah in den Fürsten die legitimen Nachfolger der Bischöfe, denen es zustand, auch über Fragen der Lehre und des Gottesdienstes die letzte Hoheit wahrzunehmen (ius in sacris). Dieses Territorialismus genannte Modell nimmt das „regio“ aus der Formel „Cuius regio, eius religio“ konsequent zum Ausgangspunkt des Staats- und Kirchenverständnisses. Seinen Vertretern war an Klarheit der Befugnisse in einem bestimmten Territorium gelegen. Sie fürchteten, dass andernfalls ein „Staat im Staate“ entstünde, woraus Konflikte und Gewalt zu befürchten wären. Auch in diesem Modell hat es Konsistorien und Superintendenten gegeben, aber als staatliche Aufsichtsorgane, die den Kirchen gegenüberstanden und nicht deren eigene Leitungsorgane waren.

Mit diesen beiden Kirchenmodellen verbindet sich koevolutionär die lutherische Orthodoxie, also das theologische Denkgebäude, das die Nachfolger der Reformatoren zur Klärung offener Fragen mit erheblichem inneren Konfliktpotential entwickelten. Die lutherische Orthodoxie reflektiert die Existenzbedingungen der lutherischen Kirchen in dieser Zeit und liefert die erforderlichen theologischen Grundlagen zur Gestaltung des kirchlichen Lebens. Dazu gehört beispielsweise die „Übertragungstheorie“ (Johann Gerhard), nach der dem Landesherrn als dem „principium membrum ecclesiae“ die bischöflichen Rechte seitens der Kirche übertragen werden, wobei es sich im Episkopalismus um eine befristete, im Territorialismus um eine dauerhafte Übertragung handelt.

Bekanntlich konnte der Augsburger Religionsfrieden keinen Frieden stiften. Die Spannungen eskalierten 1618 im Ausbruch eines Konfessions- bzw. Religionskrieges, der dreißig Jahre dauern sollte.

II. Vom Dreißigjährigen Krieg zur Frühaufklärung
Wilhelm Dilthey, Ernst Troeltsch, Karl Holl und Emanuel Hirsch haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Entstehung der Frühaufklärung und des Pietismus erforscht und sind zu dem Schluss gekommen, dass nach den Schrecken des Krieges die Begründung staatlichen Zusammenlebens auf absolute Wahrheiten einer Religion sich als nicht mehr tragfähig erwies, „weil die Pluralität konkurrierender Religionsparteien zum Krieg als Dauerzustand führte.“ Damit war ein Impuls gegeben, die Legitimation des Staates und die der Kirchen unabhängig voneinander aufzustellen.

Auf rechtlicher Seite gab diese Erkenntnis der Weiterentwicklung naturrechtlicher Ideen einen kräftigen Schub, wie sie maßgeblich von Hugo Grotius beigetragen wurden. Dabei konnten verschiedene Argumentationsmuster entwickelt werden, sei es, dass dem Staat eine unmittelbare göttliche Legitimation innewohne, sei es, dass der Staat auf vertragliche, von der Vernunft gegebene Grundlagen gestellt wurde. Entscheidend war, seine Legitimation von einer Offenbarungsreligion unabhängig zu gestalten.

Diese Veränderungen forderten den Territorialismus und den Episkopalismus heraus, die Stellung des Fürsten neu zu begründen und seine Leitungsbefugnisse gegen die kirchlicher Organe abzugrenzen. Als neues Modell entwickelte zuerst Samuel von Pufendorff ein Verständnis der Kirche als „collegium“, als „societas libera et aequalis“, nach dem die Kirche eine vom Staat zwar äußerlich geordnete, im Übrigen aber unabhängige Vereinigung darstellt, die von innen kollegial geleitet wird. Dabei wendet er sich von der orthodoxen Dreiständelehre (Geistliche, Lehrer und Laien) als innerkirchlichem Ordnungsgedanken ab und reduziert die Rollen in der Kirche am Bild des biblischen Missionsbefehls orientiert auf Lehren, Hören und Wirksamkeit. Mit dem Gedanken der „aequalitas“ werden nun endlich auch kirchentheoretisch Luthers Impulse zu einem „Priestertum aller Getauften“ wirksam.

Der Kollegialismus ist – mit erheblichen Wandlungen – für die weitere Entwicklung von entscheidendem Einfluss geworden. Denn mit ihm trat an die Stelle des alten „civitas“- Gedanken der Kirche, also einer dem Staat vergleichbaren Institution, der „societas“- Gedanke, der das Potential der Transformation des Kirchenbildes auf einen Begriff bringt. Das Kirchenbild wird gelöst von quasi-staatlicher Rolle, auch von damit verbundenen Machtansprüchen, und transformiert in eine Vereinigung, in der fromme Menschen ihre Dinge selbst regeln.

Zu den vielen staatlichen, gesellschaftlichen und kirchlichen Ebenen, die sich in dieser Zeit veränderten, entstand koevolutionär die Theologie der Frühaufklärung. Sie wandte sich ab von einem reinen Offenbarungssupranaturalismus und konfigurierte Theologie nun auch als Religionstheologie, als Reflexion auf die natürlichen religiösen Anlagen im Menschen. Der Pietismus wendete die neu gewonnene Freiheit vom kirchlichem Lehranspruch ins Individuelle und Private.

Naturrechtliche und religionstheologische Impulse setzten Unionsbestrebungen frei, sowohl im Blick auf die katholische Kirche als auch der protestantischen Konfessionen untereinander. Nachdem die Forcierung von Differenzansprüchen zur Eskalation der Gewalt im Dreißigjährigen Krieg geführt hatte, ließen eine naturrechtliche Begründung des Staatswesens wie auch religionstheologische Reflexionen über eine allgemeine religiöse Anlage im Menschen und über ein höchstes Wesen nun erstmals seit den Spaltungen der Reformationszeit die Überwindung von Differenzen zu einem erstrebenswerten Ziel werden.

Mit dieser Transformation waren gedankliche Bausteine an die Hand gegeben, die zum weiteren Bau an neuen Kirchenmodellen verwendet wurden. Systemtheoretisch kann man mit Vorsicht sagen, dass in der Herauslösung der Kirche aus dem Civitas-Gedanken ein erster Schritt auf die für die Moderne typische funktionale Ausdifferenzierung soziale Systeme getan war. Die Konfession eines Fürstentums verlor ihren integrierenden Universalitätsanspruch, den Klärungsbedarf der Kontingenzunsicherheiten von Staat und Gesellschaft verbindlich und umfassend zu regeln. Auch wenn es bis zum Recht, keine Religion zu haben, das erstmals in Preußen 1848 eingeführt wurde, noch ein weiter Weg war, so war die Tür zu diesem Weg nun aufgetan.

III. Vom Allgemeinen Landrecht bis zum Ende des landesherrlichen Kirchenregiments
Mit dem Allgemeinen Landrecht 1794 setzte Preußen Maßstäbe für den späteren Konstitutionalismus und die Rolle der Kirchen. Dort heißt es in im Elften Titel des Zweiten Teiles in § 143: „Bei den Protestanten kommen die Rechte und Pflichten des Bischofs in Kirchensachen, der Regel nach, den Consistoriis zu.“ Und in § 145: „Sämtliche Consistoria der Protestanten stehen unter der Oberdirektion des dazu verordneten Departements des Staatsministerii.“ Zugleich wird der Begriff der „Religionsgesellschaften“ eingeführt, der bis heute Bestand hat. Damit hat Preußen verschiedene der bis dahin kontrovers verhandelten Theorien und Leitungsmodelle religions-verfassungsrechtlich aufgenommen und gewissermaßen synthetisiert. Vom Kollegialismus wurde der Gedanke einer rechtlich geregelten Vereinigung („Religionsgesellschaften“) übernommen. Vom Territorialismus wurde der Anspruch des Staates weitergeführt, dass er es ist, der den Rahmen setzt und Befugnisse zuteilt und die Einhaltung des Rechts kontrolliert. Vom Episkopalismus wurde die eigene geistliche Zuständigkeit des ordinierten Amtes genommen, sowohl in Einzelämtern wie den Superintendenten und Generalsuperintendenten als auch in den Konsistorien, in denen Theologen und Juristen gemeinsam die Kirche leiteten. Episkopale und konsistoriale Leitungselemente bewiesen eine große Stabilität in den sich verändernden Kirchentheorien.

Lediglich das synodale Element führte nach wie vor ein eher stiefmütterliches Dasein. Das änderte sich mit dem Aufkommen demokratischer Strukturen in den deutschen Ländern und parallel mit der Entstehung eines blühenden Vereinswesens im Bürgertum. Jetzt erst wurden die synodal-presbyterialen Leitungsformen geschaffen, die uns heute so selbstverständlich sind, u. a. von der Gemeinde gewählte Kirchenvorstände als Leitungsorgane.

Koevolutionär konnten nun calvinistische Impulse in Deutschland zum Tragen kommen. Nachdem die Niederlande in den von spanisch-katholischer Herrschaft befreiten Teilen die maßgeblich von Remonstranten entwickelten presbyterial-synodalen Leitungsstrukturen aufgebaut hatten, wirkten diese sowie angelsächsisch-puritanistische Einflüsse zunächst vor allem auf die benachbarten preußischen Rheinprovinzen zurück. Die „Rheinisch-westfälische Kirchenordnung“ von 1835 wurde zum Muster letztlich aller Kirchenverfassungen in Deutschland. Dabei entbrannte im 19. Jahrhundert der alte Streit zwischen Territorialismus und Episkopalismus neu in Gestalt eines Streites um das Wesen der Kirche und ihr Recht. Friedrich Julius Stahl stand in der Tradition des Territorialismus für ein einziges Recht, dessen Setzung und Ausübung dem Staate zukomme und als dessen Teil das Recht der Kirche zu verstehen sei. Rudolf Sohm hielt ein Verständnis von Geistkirche dagegen, das sich mit dem Recht nicht verträgt.

Die äußeren Dinge müssten zwar unvermeidlich rechtlich geregelt werden, aber die Kirche selbst sei in ihrem Wesen, in ihrer Lehre und in ihrem Kultus davon unabhängig.

Als mit dem Kaiserreich auch das landesherrliche Kirchenregiment endete, orientierten sich die Kirchen im Großen und Ganzen am Aufbau der Weimarer Verfassungsorgane. An der Spitze wurden i.d.R. Kirchenpräsidenten etabliert, von denen manche nach und nach und schließlich auch unter dem Eindruck des Führerprinzips den Landesbischofstitel erhielten. Die Vorsilbe „Landes-“ hatte dabei weniger funktionale Bedeutung, sondern diente der Erkennbarkeit gegenüber den katholischen Bischöfen. Alle Landeskirchen führten Synoden ein. Die Ausgestaltung der synodalen Elemente geschah unterschiedlich. Ein besonderes Modell ist das der Urwahl, das in Württemberg bis heute besteht. In Schleswig-Holstein hatten Gemeindeversammlungen den Synoden vergleichbare Funktion auf Ortsebene. Die Erfahrungen im Kirchenkampf, als Gemeindeversammlungen von braunen Horden gekapert wurden, bewog die Väter und Mütter der nordelbischen Kirchenverfassung, der Gemeindeversammlung nurmehr Antrags- und Auskunfts-, aber keine Entscheidungsrechte mehr zuzugestehen.
Im eigentlichen Sinne synodale Strukturen gibt es in den Landeskirchen heute nur auf mittlerer und oberer Ebene.

IV. Neuordnung nach 1945
Für die Neuordnung der Kirchenverfassungstypen war maßgeblich die Erfahrung im Kirchenkampf und die Auseinandersetzung mit der Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Die unierten Kirchen schufen sich durchweg „Kirchenordnungen“, um in Anlehnung an Barmen III auszudrücken, dass die Kirche nicht nur mit ihrer Botschaft, sondern auch mit der Art, wie sie ihre Angelegenheiten ordnet, Zeugnis in der Welt ablegt. Der Gedanke einer „Gemeinde von Brüdern“, der im bruderrätlichen Leitungsprinzip der Bekennenden Kirche erstmals realisiert worden war, wirkte maßgeblich bei der Aufteilung der Leitungsbefugnisse und z. B. in Hessen-Nassau und Pommern bei der Schaffung eines Teamleitungsamtes mit, bestehend aus Pröpsten und Kirchenpräsident, bzw. Bischof. Die Aussage von Barmen IV, dass die verschiedenen Ämter keine Herrschaft der einen über die anderen begründen, prägte tief das Selbstverständnis der Organe und vor allem der Laien. Den geistlichen Leitungsämtern wurden im Wesentlichen repräsentative Aufgaben zugewiesen. Eine Ausnahme bilden das Rheinland und Westfalen insofern, als das leitende Geistliche Amt dort mit dem Vorsitz der Synode und zugleich mit der Leitung des Landeskirchenamtes verbunden ist, so dass es trotz gegenteiligen Selbstverständnisses hier zur Etablierung starker Leitungsämter gekommen ist.

Die lutherischen Kirchen behielten ihre Verfassungen aus der Weimarer Zeit im Wesentlichen bei und passten sie den Verhältnissen vorsichtig an. Freilich sind auch in ihnen teilweise die Synoden und kirchenleitenden Organe, aber auch die mittleren Ebenen der Kirchenkreise mit erheblichen Befugnissen ausgestattet, so dass – von Landeskirche zu Landeskirche unterschiedlich – die lutherischen Bischöfe organisational kaum mächtiger sind als ihre unierten Kollegen ohne (in der EBKO mit) Bischofstitel. Im Bischofstitel hat sich aber ein deklaratorischer Anspruch aus der monarchischen Ständegesellschaft erhalten, der mit der funktional differenzierten Arbeitsteilung in der Moderne gelegentlich in Konflikt gerät.

Gerade die Nachkriegszeit bietet noch einmal gute Beispiele dafür, wie gesellschaftliche Impulse auf die Kirche einwirken und Koevolutionen sich vollziehen. Die Kirchen der EKD gestalteten den Aufbau der demokratischen Nachkriegsgesellschaft in der Bundesrepublik sehr bewusst mit und schalteten sich in ihre intellektuellen Diskurse z.B. mit ihren Akademien entschieden ein. In ihrer Demokratiedenkschrift bekennt die EKD 1985: „Die Lebendigkeit der Demokratie beruht auf der offenen Diskussion und Auseinandersetzung über strittige Fragen. Sie bedarf aber auch eines tragenden Grundkonsens. Zu beidem haben Christen und Kirchen einen Beitrag zu leisten.“ Die Selbstverpflichtung auf den Beitrag zu einem werteorientierten Grundkonsens steht wie nichts anderes für das Selbstverständnis des Protestantismus in der Bonner Republik. Und es scheint wiederum koevolutionär zu sein, dass die Kirchen in dieser Zeit zwar über vieles stritten, wie z. B. die Nachrüstung, aber letztlich den Konflikt als etwas betrachteten, das nicht sein soll und zu überwinden ist. Jedenfalls werden die Unterschiede synodaler, episkopaler und konsistorialer Leitung immer weiter abgeschliffen. Typisch dafür ist, dass inzwischen in den meisten Verfassungen und Ordnungen der Landeskirchen Sätze vorkommen wie: „In der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland geschieht Leitung im Hören auf Gottes Wort und durch seine Auslegung. Sie erfolgt in allen Ebenen geistlich und rechtlich in unaufgebbarer Einheit.“ 17 Über die Leitung der Kirchengemeinde heißt es: „Die Kirchengemeinde wird durch den Kirchengemeinderat geleitet. Dies geschieht in gemeinsamer Verantwortung aller Mitglieder, unbeschadet des besonderen Dienstes der Pastorinnen und Pastoren nach Artikel 16 Absatz 2.“ Man ahnt, welche konfliktreichen Debatten hinter diesen Konsensformulierungen stehen. Man kann sie als Versuch verstehen, alle Teile der Kirche gleichberechtigt, fair und funktional angemessen an der Leitung zu beteiligen und dem nicht ganz kleinen konfliktiven Rest, der durch Regelungen nicht einzufangen ist, ein „Seid vernünftig und vertragt euch!“ zuzurufen.

Weitere Beispiele können skizziert werden: So trägt die nordelbische Verfassung von 1977 in ihrer Herabstufung der Befugnisse des geistlichen Amtes deutlich die Spuren der 68er-Jahre an sich, als alle gesellschaftlichen Ämtern nivelliert wurden und basisdemokratische Verfahren zum normierenden Gedanken von Leitung wurde. Die Verfassung der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands von 2008 wiederum enthält weitläufige Artikel über Mitgliedschaft, Mitwirkungsrechte, besondere Dienste und Ehrenämter, in denen die Debatten um Zugehörigkeit und Partizipation einen Reflex gefunden haben. Die Verfassungsnovelle der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers schließlich hat 2020 neu einen Artikel 5 aufgenommen, in dem der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche gegenüber Staat und Gesellschaft erstmals ausdrücklich formuliert wird. Offenkundig ein Reflex darauf, dass dieser Öffentlichkeitsauftrag nicht mehr selbstverständlich ist.

Zieht man hier ein vorläufiges Fazit, könnte man meinen: Endlich sind alle verschiedenen Kirchentheorien und Leitungstypen synthetisiert. Man hat von allem das Beste genommen, beteiligt alle fair und funktional angemessen an der Leitung. Das Paradies kann ausgerufen werden! Oder nicht?

V. Ein systemtheoretischer Blick auf die Funktion von Religion in der Moderne
Mit der Transformation vom civitas- zum societas-Gedanken tritt die Kirche in ihrer organisierten Gestalt in die Moderne ein, wird – mit der Begrifflichkeit der Systemtheorie ausgedrückt – ein soziales Subsystem in der Gesellschaft neben anderen, z. B. der Politik, dem Recht, der Wirtschaft, der Medizin, der Kunst usw. Jedes soziale System (in diesem Sinne) hat eine spezifische Funktion, die es von anderen unterscheidet. Es bietet damit die Lösung eines Problems an. Welches ist das Problem, das mit dem System „Religion“ gelöst werden soll und welches ist seine spezifische Funktion?

Jedes System trifft Unterscheidungen, es tritt als Beobachter auf, der Dinge unterscheidet, indem er sie bezeichnet. Dabei entsteht immer eine System / Umwelt-Differenz. Der bezeichneten Innenseite steht ein „unmarked space“ gegenüber. Wenn ich einen Apfel als „Apfel“ bezeichne und damit von seiner Umwelt unterscheide, ist präzise nur der Apfel bekannt. Seine Umwelt bleibt ein „unmarked space“. Mit Operationen dieser Art hat es jedes System zu tun. Es lassen sich Operationen an Operationen anschließen, die immer neue Unterscheidungen treffen, aber auch für einen Beobachter höherer Ordnung bleibt zuletzt immer ein nicht zu bezeichnender „unmarked space“ zurück. Damit können die sozialen Systeme leben, soweit sie sich auf immanente Dinge beziehen. Aber gewissermaßen am Außenrand der Gesellschaft, wo es um die Unterscheidung von Leben und Tod geht und um die Frage: Was ist jenseits der Grenze?, genügt der Vollzug dieser Operationen alleine nicht. Vielmehr muss hier die Grenze selbst beobachtet und im Medium von Sinn in eine spezifische Form gebracht werden. Genau dies ist die Funktion der Religion. Sie operiert mit dem Code immanent / transzendent und fragt nach der Einheit der Differenz von Aktualität und Potentialität, dem bezeichneten Innen und dem unbekannten Außen.

Aus dieser nur knappen Skizze wird immerhin deutlich, dass Religion systemisch auf Einheit ausgerichtet ist. Sie fragt nach der Einheit der Differenz von Innen und Außen, und sie kann dies in endlos potenzierten Operationen immer weiter vorantreiben. Die logische Annahme ist auf jeden Fall die, dass es, wenn auch dem Menschen nicht zugänglich, irgendwo eine letzte Einheit dieser Differenz gibt. Diese Einheit wird mit der „Kontingenzformel“ Gott bezeichnet.

Vor diesem Theoriehintergrund wird es plausibel, dass es mit Beginn der Moderne religionstheologisch eine Art treibende Kraft gibt, die den Unterschied zwischen Konfessionen und Religionen zu überwinden drängt. Denn, wie Luhmann sagt, „einen Unterschied kann man nicht anbeten“. Religion wird zu einer Funktion der Gesellschaft. Das hat tiefgreifende Veränderungen ihrer Rolle zur Folge. Statt einer herrschenden kommt ihr nun eine funktional dienende Rolle zu. Ihre Legitimation bezieht sie intern aus ihrer religiösen Botschaft. Extern jedoch muss diese Botschaft übersetzt werden, d. h. sie muss in der Lage sein, auch in nicht-religiöser Sprache zu helfen, Kontingenzerfahrungen in Sinn zu überführen.

Die Systemtheorie eröffnet mit ihrem „Dreiklang“ von Gesellschaft, Organisation und unmittelbarer Interaktion weitere Fragehorizonte: Kann dieses „soziale System Religion“ organisiert werden? Und wie verhält sich seine organisationale Form zur gelebten Ebene unmittelbarer Interaktivität? Eine Spannung besteht darin, dass es zur Funktion von Organisationen gehört, Entscheidungen zu treffen und über Entscheidungen Erwartungsunsicherheiten abzubauen bzw. neue zu schaffen. Das bezieht sich nicht nur auf die Struktur einer Organisation, sondern auch auf ihr Programm. Es unterliegt ihren Entscheidungen und steht damit zur Disposi-
tion. Zwar mag eine Organisation sich verständigen, bestimmte Inhalte des Programms nicht in Frage zu stellen, dennoch ist dies jederzeit möglich. Und faktisch ist dies auch in den Kirchen immer geschehen. Damit enthält die Organisation grundsätzlich ein dekonstruktives Element im Blick auf Religion. Weiter steht die Organisation vor der Frage, wie sie Entscheidungen so durchsetzt, dass sie auch auf der Ebene unmittelbarer Interaktion greifen. Sie kann dazu ein Kontroll- und Sanktionsinstrumentarium aufbauen, wie es das zuzeiten tatsächlich gegeben hat. Ist ihr ein solcher Weg in einem freiheitlichen Umfeld versperrt, bleibt ihr z. B. die Möglichkeit, die Durchsetzung von Entscheidungen durch die Besetzung von Stellen zu steuern.

VII. Aktuelle Herausforderungen an die Gestaltung evangelischer Kirchenleitung
Die Corona-Pandemie hat die Chancen und Herausforderungen digitalen kirchlichen Lebens wie unter einem Brennglas sichtbar werden lassen. Allerdings sollte man nicht voreilig alles für vollkommen neu halten. Zentrale Themen wie Selbstermächtigung und Zugehörigkeit haben auch in anderen Phasen der Kirchengeschichte eine Rolle gespielt. Erinnert sei an die Entstehung des Pietismus und der Erweckungsbewegungen. Aber auch an die
friedensbewegten 1970/80er Jahre, als in kirchlichen Friedensgruppen Positionen vertreten wurden, die mit denen der Kirchenleitungen alles andere als konform gingen. Auch damals versuchten Kirchenleitungen zu steuern, z.B. über die Disziplinierung von Stelleninhabern. Und auch damals wurde in einem offenen Kräftespiel austariert, was als Teil der verfassten Kirche noch „geduldet“ werden konnte, und was als freie Gruppen am Rande der Gemeinden zu sehen war. Endlose Debatten in Kirchenvorständen über Raumvergaben waren ein Ort, an dem solche Zugehörigkeitsfragen verhandelt wurden.

Neu ist an den digitalen Teilen kirchlichen Lebens die enorme Geschwindigkeit der Entwicklungen und der interaktiven Prozesse; die viel größere Zahl von Beteiligten und ihre regional nahezu grenzenlose Reichweite; und schließlich die noch ganz unabgeschlossene Entwicklung neuer Gemeindeformen, die durch die digitalen Medien erst möglich werden. In diesen kirchlichen Aktivitäten vollziehen sich Partizipation und Selbstermächtigung und wird Zugehörigkeit ausgehandelt. Vor Ostern 2020 versuchten die Leitungen der Landeskirchen und der EKD den Umgang mit dem Abendmahl zu steuern: Es wurde ein „Abendmahlsfasten“ empfohlen, es wurden Formulare für Hausabendmahle angeboten, es wurden gestreamte Abendmahle zur Verfügung gestellt, vor denen von anderen gewarnt wurde. Insgesamt wurde der Leitung der Organisation Kirche vor Augen geführt, wie wenig sie gefragt ist und wie wenig ihrer bedurft wurde. Wie soll die evangelische Kirche auf diese Erfahrungen reagieren? Soll sie Teile der digitalen Kirche als zugehörig zu ihr betrachten und in diesem Teil über ordinierte Amtsträger oder bezahlte Influencer Leitung ausüben? Soll sie alles, was sich als nicht steuerbar erweist, preisgeben, als nicht zu ihr gehörig deklarieren?

Während die Digitalisierung Partizipation und Selbstermächtigung stärkt und Fragen der Zugehörigkeit aufwirft, kommen von anderer Seite schon seit ca. 30 Jahren ganz anders gelagerte Herausforderungen auf die Kirche zu. Kirche handelt ja keineswegs nur im System Religion, sondern als Organisation auch in nahezu allen anderen Subsystemen der Gesellschaft: Recht, Wirtschaft, Politik, Medizin, Kunst usw. In allen diesen Subsystemen schreitet die funktionale Differenzierung voran. Die rechtlichen Rahmenbedingungen, die die Kirchen im Arbeitsrecht, bei der Durchführung von Freizeiten oder im Umgang mit Daten zu beachten haben, können nur noch professionell ausgestaltet werden. Unprofessionelles Handeln kann erhebliche rechtliche, wirtschaftliche oder reputative Schäden zur Folge haben. Dasselbe gilt für den Umgang mit Finanzen, mit dem Anlagevermögen und der betriebswirtschaftlichen Planung. Gesundheitsschutz, Wiedereingliederungs-Management, Arbeitsplatzsicherheit – die Themen ließen sich beliebig erweitern. Episkopale und synodale Elemente kirchlicher Leitung können die erforderliche Professionalität allein nicht aufbringen. Lediglich die konsistoriale Ebene kann hier in die Lage versetzt werden, ausreichend professionelle Kapazitäten vorzuhalten, oder es können Spezialstellen, Institute usw. für einzelne Themenfelder geschaffen werden. Professionalisierung erzwingt Zentralisierung und Verhauptamtlichung. Sie höhlt das Subsidiaritätsprinzip, nach dem viele Kirchenverfassungen ausdrücklich oder implizit ausgerichtet sind 25 , aus bzw. kehrt es um. Der unteren Ebene kann nur noch das zur Steuerung überlassen werden, zu dem sie nachweislich professionell in der Lage ist oder zu dem es keiner Professionalität bedarf.

Diese gegenläufigen Kräfte könnten zu einer dichotom gestalteten Kirche führen: Eine Organisation, die zentral in allen organisatorischen Fragen geleitet wird und die über ihre Stelleninhaber versucht, auf einen Teil kirchlichen Lebens auch theologisch Einfluss zu nehmen. Und eine Netzwerkkirche, die partizipativ geleitet wird. Man kann den Begriff der Kirche als Hybrid aufnehmen: Institution, Organisation, Bewegung, Netzwerk. Es scheint aber unter dem Einfluss der Digitalisierung offen zu sein, wie diese Ebenen miteinander verbunden sein werden und was Zugehörigkeit unter diesen Voraussetzungen bedeutet.

Synodale, presbyteriale und konsistoriale Leitungselemente werden sich, wie zu sehen war, in diesen Strukturen wiederfinden können, sich aber neu aufstellen, ihre Kompetenzen neu aushandeln müssen. Schwieriger scheint dies für die episkopalen Elemente zu sein. Der Raum für die Inhaber des ordinierten Amtes beschränkt sich in dem hier gezeichneten Bild auf theologische Leitung und Seelsorge in einem organisationalen Teilbereich der Kirche und auf Repräsentation dieses Teile nach außen. Sofern die Amtsträger sich auf digitale Kommunikation verstehen, eröffnet sich ihnen trotz der Beschränkungen ein weites Wirkungsfeld. Es bleibt abzuwarten, wie sich solche neuen Tätigkeitsformen mit der Prägung des Amtes aus der monarchischen Ständeordnung verbinden; ob und wie z.B. die direkte Kommunikation zwischen Amt und Einzelnen ohne zwischengeschaltete Dienstwege das Amt verändern.

Hinsichtlich der Repräsentation der Kirche nach außen ist es die besondere Aufgabe des ordinierten Amtes, die Funktion von Religion in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft auszufüllen, konkret: Angebote zu machen, die jeweiligen Kontingenzerfahrungen in Sinn zu überführen, und dies auch in nicht-religiöser Sprache. Im zeitnahen Rückblick auf den durch das Corona-Virus bedingte Lockdown wird man sagen können, dass die Kirchen überwiegend auf gesellschaftlichen und innerkirchlichen Konsens gesetzt haben. Die Gesellschaft hat sich aber seit der Bonner Republik verändert und braucht auch die Gestaltung von Dissensen. Genau in den Auseinandersetzungen und in dem Unverständlichen und Unkontrollierbaren einer Pandemie werden Kontingenzerfahrungen gemacht, die der Deutung bedürfen. Die Gestaltung und die Deutung der Auseinandersetzungen um die Spannung zwischen Lebensschutz und Freiheitsrechten und um die Hintergründe eines wahrscheinlich anbrechenden pandemischen Zeitalters wurden nur zögerlich aufgegriffen. Annäherungsdruck und Zentrifugalkräfte werden wie in der Gesellschaft auch kirchlich neu auszuhandeln sein. Dabei wird auch das Verhältnis zwischen den synodalen, konsistorialen und episkopalen Elementen evangelischer Kirchenleitung immer wieder zur Debatte stehen.

„Die Tore stehen offen. Das Land ist hell und weit.“ Aber: Das Paradies auszurufen, erscheint – zu früh.

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Ihr seid das Salz der Erde. Zur Zukunft einer Kirche des Heiligen Geistes.

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Von der “Krise des Allgemeinen” und der Bedeutung der “Umstände” im kirchlichen Dienst.